Die EU-Wahl aus schwedischer Sicht

Von Andreas Sörensen, Vorsitzender der Kommunistischen Partei Schwedens (Sveriges Kommunistiska Parti, SKP)

Dieser Artikel von Andreas Sörensen erschien in Heft 7 der Einheit und Widerspruch. Einheit und Widerspruch ist ein von der PdA herausgegebenes Diskussionsorgan zur Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus. Der jeweilige Beitrag gibt die Meinung des Autors/der Autorin wieder und muss nicht unbedingt mit den Positionen und Beschlüssen der PdA übereinstimmen.

Zum ersten Mal treten die Kommunisten in Schweden bei der EU-Wahl an. Seit 1994, als Schweden ein Mitglied der Union wurde, haben die Kommunisten eine andere Linie verfolgt, teilweise aus Schwäche – es hat nicht genug Kraft für eine Kampagne gegeben –, und teilweise aus ideologischen Gründen. Jetzt aber treten wir an. Das bedeutet, dass wir stärker als früher sind und dass wir auch eine stärkere Analyse zur EU und EU-Wahl haben. In diesem Artikel werde ich die Analyse der Kommunistischen Partei Schwedens (SKP) vorstellen, sowohl zur EU als auch zur Wahlteilnahme.

Für Kommunisten ist die Teilnahme an den bürgerlichen Wahlen nicht hauptsächlich eine Frage der Demokratie, sondern eine Frage des Pragmatismus. So ist es, weil die bürgerlichen und kapitalistischen Parlamente nur eine Illusion von Demokratie sind. Die Macht, die man in den Staaten und Parlamenten finden kann, ist die Macht der Kapitalisten, organisiert, um die Ausbeutung der Arbeiterklasse so effektiv wie möglich zu machen. Hier ist keine Demokratie zu finden und deshalb kann es für uns auch nicht eine Frage der Demokratie sein, bei den Wahlen mitmachen.

Der Pragmatismus äußert sich darin, dass wir die Möglichkeit bekommen, eine Wahlkampagne zu betreiben, was in Wahlzeiten sehr wichtig ist, weil die Menschen sich auch mehr für Politik interessieren. Es gibt uns auch die Möglichkeit, die ganze Partei auf einen Ziel auszurichten. Das führt dazu, dass es die Partei konsolidiert und zusammenführt.

Nach der Wahl können wir auch sehr genau unsere Unterstützung einschätzen und messen. Wir können sehen, in welchen Gebieten und Stadtteilen wir die stärkste Unterstützung haben und unsere zukünftige Propaganda also noch effektiver machen. Die Teilnahme an den Wahlen gibt uns also Information und sofortiges Feedback zu unserer politischen Arbeit.

Wenn wir gewählt werden, öffnen sich noch weitere Möglichkeiten für unsere politische Arbeit. Wir wissen, dass wir den Kapitalismus weder organisieren noch administrieren wollen. Diese Arbeit überlassen wir den Opportunisten und Reformisten. Was uns dann bleibt, ist die Ausnützung der parlamentarischen Versammlungen für revolutionäre Zwecke.

Das bedeutet konkret, dass wir innerhalb der Parlamente arbeiten, um die Partei zu stärken und die Arbeiterbewegung auf ein revolutionäres Fundament zu stellen. Die gewählten Kommunisten müssen in den Parlamenten so arbeiten, dass das Vertrauen des Volkes in den Staat und in das kapitalistische System geschwächt wird und endgültig bricht. Die gewählten Kommunisten müssen so arbeiten, dass sie die Administration des Kapitalismus erschweren, weil eine effektive kapitalistische Administration eine effektive Ausbeutung der Arbeiter ist.

Die Kommunisten in den Parlamenten müssen sehr vorsichtig sein, sodass sie keine Illusionen über die Möglichkeiten des Wohlfahrtsstaates oder den Raum für Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems schüren. Konkret heißt das:

- Die Widersprüche zwischen den Bedürfnissen der modernen Menschen und der politische Administration zu entlarven.
– Alle Illusionen über den Parlamentarismus und Kapitalismus zu entlarven und zu bekämpfen.
– Wiederaufbau der kommunistischen und revolutionären Arbeiterbewegung, in totaler Opposition gegen den Kapitalismus.
– Alle Parteien, die von links oder rechts den Kapitalismus schützen, entlarven und bekämpfen.

Dieses Verhalten steuert unsere parlamentarische Aktivität in allen Situationen. Wir machen keinen Unterschied zwischen den verschiedenen parlamentarischen Ebenen innerhalb des Kapitalismus, weil alle Ebenen sowieso Mittel sind für die Ausbeutung der Arbeiterklasse und die Expansion des Kapitals in den jeweiligen Ländern.

Der Teilnahme an der EU-Wahl

Im schwedischen Kontext stellt jedoch die EU-Wahl ein komplizierteres Problem dar als die Wahlen zu den nationalen, regionalen und kommunalen Versammlungen. Es gibt hier eine Tradition des Boykotts in Bezug auf die EU-Wahl. Aus revolutionärer Sicht ist das ein Problem, weil es einfach nicht konsequent revolutionär ist.

Ich will hier die gewöhnlichsten Argumente gegen eine Teilnahme diskutieren, um zu zeigen, warum sie nicht auf einem revolutionären Grund stehen.

Argument 1: Das Europaparlament hat keine Befugnisse und keine Macht.

Ja. Dem Parlament fehlen gewisse Befugnisse, die unsere nationalen Parlamente haben. Das Parlament kann zum Beispiel nicht eigene Vorschläge machen, sondern nur auf die Vorschläge der EU-Kommission reagieren und sie ablehnen. Die Macht beim Europaparlament bleibt also begrenzt – aber was für eine Rolle spielt das eigentlich?

Man muss sich daran erinnern, dass, wenn es um die Macht im kapitalistischen Parlament geht, wir sie sowieso nicht haben wollen! Wir können nicht die Macht der Arbeiterklasse in den kapitalistischen Parlamenten ausüben. Sie sind konstruiert, um die Macht der Kapitalisten durchzusetzen. Wenn wir uns in einer Position finden, wo wir nach der Macht in den kapitalistischen Parlamenten streben, haben wir schon verloren, weil wir uns in eine parlamentarische Partei, die auf Prozente und parlamentarische Mandate schaut, verwandelt haben.

Wir sind Revolutionäre. Unsere Pflicht ist, die Revolution zu machen. Um die Revolution machen zu können, müssen wir die Macht der Arbeiterklasse unabhängig und in Opposition zur kapitalistischen Macht aufbauen. Wenn wir die kapitalistischen Parlamente für diesen Zweck ausnützen können, machen wir das. Deshalb ist die Macht, die es in den heutigen Parlamenten gibt, nicht die wichtigste Frage.

Argument 2: Wenn wir an der Wahl teilnehmen, legitimieren wir auch die EU.

Ein anderes Argument, das man oft hört, ist, dass eine Teilnahme die EU als Institution legitimiert und Illusionen darüber erschafft, was die EU ist und macht. Wenn man an der Wahl teilnimmt, würde man also die EU akzeptieren.

Dieselbe Logik wird jedoch nicht bei den nationalen Parlamenten angewandt. Trotz der Tatsache, dass die nationalen Parlamente den Kapitalismus administrieren, genau wie das EU-Parlament (obwohl das EU-Parlament andere Befugnisse hat, aber das spielt hier keine Rolle), werden unsere Stellungsnahmen in Bezug auf die Reichstagswahl nicht in Frage gestellt. Was bedeutet das?

Das kann nichts Anderes bedeuten, als dass man die verschiedenen Parlamente unterschiedlich einschätzt. Die nationalen Parlamente bekommen so eine andere Rolle – qualitativ gesehen – als die internationalen Parlamente. Durch den Boykott der EU-Wahl malt man also ein Bild von einem besseren nationalen Parlament, das nicht so imperialistisch oder undemokratisch wie das EU-Parlament ist.

Durch den Boykott der EU-Wahl und nicht die nationale Wahl legitimiert man also das nationale Parlament. Ein Boykott in der heutigen politischen Situation entwaffnet die Partei und die Bewegung und schützt den nationalen Kapitalismus.

Argument 3: Eine rechte Politik ist im Grundgesetz der EU festgeschrieben.

In Gegensatz wozu? Linke kapitalistische Politik? Wir sind nicht daran interessiert, kapitalistische Politik zu betreiben, weder linke noch rechte.

Die ganze Zeit stellt man eine rechte kapitalistische Politik einer linken kapitalistischen Politik gegenüber, was die kommunistische Bewegung in eine kapitalistische Politik einschließt. So werden die kommunistischen Parteien gelähmt und Mittel im Kampf zwischen kapitalistischen Fraktionen.

Eine dringende Pflicht der Kommunisten muss sein, nicht mehr zwischen den verschiedenen kapitalistischen Alternativen zu wählen und stattdessen eigene Alternativen vorzustellen. Wir müssen die Frage nach „dem kleinsten Übel“ hinter uns lassen und nicht eine kapitalistische Politik gegenüber einer anderen befürworten. Wir müssen immer die Systemfrage stellen: Wir wollen das ganze kapitalistische System mit dem sozialistischen System ersetzen. Darüber müssen wir uns sehr deutlich ausdrücken: An jedem Tag wächst der Unterschied zwischen dem, was wir heute haben, und dem, was wir hätten haben können im Sozialismus.

Deshalb ist es auch nicht wichtig, dass eine rechte Politik im Grundgesetz der EU festgeschrieben ist. Würde übrigens ein anderes Grundgesetz den Charakter der EU als imperialistisches Bündnis ändern?

Wir nehmen also an der EU-Wahl teil, weil wir eine konsequente revolutionäre Partei sind und deshalb auch eine revolutionäre Politik ausführen, die keine Illusionen über den Kapitalismen schafft, egal ob es die nationale oder internationale Ebene ist.

Wie schätzen wir die EU ein?

Seit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist der Zweck der europäischen Integration die Stärkung der Macht der europäischen Monopole. In verschiedenen Entwicklungsetappen wurde die Zusammenarbeit zwischen den Kapitalgruppen Europas gestärkt und vertieft, und jedes Mal hat dies zu Verschlechterungen für die Völker Europas geführt.

Man hat einen großen Schritt genommen, als man nach der Konterrevolution in Osteuropa die Ost-Expansion eingeleitet hat. Die Monopole Westeuropas sahen die Möglichkeit, diese Hälfte des Kontinents unter das Joch des Imperialismus zu werfen und die eigenen Profite zu steigern. Die Länder Osteuropas wurden aufgeteilt zwischen den großen Westmächten – auch Schweden hat hier einen Teil bekommen.

Vor allem deutsche, französische und italienische Banken, Industriebetriebe, Lebensmittelketten und Medien haben sehr schnell und aggressiv expandiert. Auch schwedische Banken und Industrieunternehmen haben vor allem ins Baltikum expandiert. Das hat zu riesigen Gewinne für die Monopole und riesigen Verlusten für die Völker geführt – und tut es immer noch.

Eine der wichtigsten Funktionen der EU ist die Erleichterung für die europäischen Monopole, neue Märkte zu gewinnen und Vorteile gegenüber Konkurrenten zu schaffen. Die Union erleichtert den Kapitalexport, öffnet neue Märkte und nimmt an der Neuaufteilung der Welt teil. Das macht die EU zu einem imperialistischen Zentrum und wie die internationale Konkurrenz intensiviert wird, werden auch neue Schritte in Richtung weitere Integration unternommen.

Nach außen hat die EU die Leitung des Kampfes der europäischen Monopole gegen andere imperialistische Zentren inne, innerhalb der EU leitet die Union den Kampf gegen die Arbeiter und Völker.

Mit Mindestlöhnen um ungefähr 400 Euro in den osteuropäischen Ländern, aber einem Preisniveau, die eher einem westeuropäischen Land entspricht, werden die Völker Osteuropas ärmer. Diese Situation zwingt Millionen Menschen, ihre Länder zu verlassen und ein Einkommen in einem anderen Land zu suchen. Die Folge ist, dass sie ihre Familie, Kultur, Sprache und Heimat verlassen müssen, um zynisch ausgebeutet zu werden, um die Steigerung der Profite der Monopole zu sichern.

Während die Gewinne der zehn größten Unternehmen in der EU dem Jahreseinkommen von mehr als 40 Millionen Arbeitern entsprechen, haben mehr als 16 Millionen Menschen in der EU gar keine Arbeit. Obwohl die so genannte „Europäische Säule der sozialen Rechte“ besagt, dass Frauen und Männer denselben Lohn für dieselbe Arbeit erhalten sollen, verdienen Frauen um 16 Prozent weniger als Männer, und obwohl diese Säule auch meint, dass „Beschäftigungsverhältnisse, die zu prekären Arbeitsbedingungen führen“, unterbunden werden sollen, haben 43 Millionen Menschen, die meisten davon Frauen, prekäre Teilzeitanstellungen.

Für die Völker und die Arbeiter in Europa gibt es keine andere Alternative als die Bekämpfung der EU.

Gibt es in Bezug auf die EU eine nationale Frage?

Oft wird behauptet, dass die EU die nationale Selbstbestimmung Schwedens eingeschränkt hat, oder dass wir zuerst das Land von der EU befreien müssen und erst danach für den Sozialismus kämpfen.

Dagegen sagen wir eindeutig: Es gibt für Schweden keine nationale Frage in Bezug auf die EU. Eine solche Analyse würde die Klassengegensätze verstecken und die Nation als eine Einheit vorstellen. Es wäre eine nationalistische Analyse.

Die schwedische Nation ist seit Jahren – auf jeden Fall seit der Machtübernahme der Kapitalisten 1860 – völlig unabhängig. Es ist eine kapitalistische und imperialistische Nation, die an der Ausbeutung der armen Nationen und Völker der Welt teilnimmt. Als Schweden sich der EU anschloss, war dies möglich, weil die Kapitalisten die nationale Selbstbestimmung erreicht hatten. Es war den Kapitalisten Schwedens möglich, die schwedische Nation in die EU zu führen.

Dass gewisse Funktionen in Brüssel ausgeübt werden und nicht mehr in Stockholm, ist nicht das wichtigste, weil die schwedischen Kapitalisten sowieso diese Funktionen wollen. Es ist keine Einschränkung der Selbstbestimmung, sondern eine Taktik der Kapitalisten. Die Allianzen der Kapitalisten und Imperialisten schränken nicht die Selbstbestimmung der Nationen ein, sondern verstärken die Positionen der Kapitalisten gegen andere imperialistische Zentren wie auch gegen die Arbeiter der eigenen Nationen.

Die Frage der EU bleibt so eine Klassenfrage, nicht eine nationale Frage. Deshalb stellen wir nicht die Frage nach der Selbstbestimmung der Nation, sondern die Frage nach der Selbstbestimmung der Arbeiter innerhalb der Nation.

Das führt uns weiter: Wir wollen die Macht in der Nation übernehmen. Wir wollen eine Nation in den Händen der Arbeiter. Das ist nichts Anders als Sozialismus. Es geht also nicht um die Macht der Nation, sondern um die Macht in der Nation.

Was ist unsere Alternative?

Es ist unmöglich, die EU zu bekämpfen ohne eine sozialistische Perspektive. Wenn wir sagen, wir sind gegen die EU und befürworten einen Austritt aus der EU, sehen wir es nicht als einen Schritt auf dem Weg zum Sozialismus, sondern der Kampf gegen die EU ist ein Bestandteil des Kampfes gegen Kapitalismus und Imperialismus. Den einen Kampf kann man nicht vom anderen trennen.

Würden wir sagen, dass der Kampf gegen die EU eine Bedingung für den Kampf gegen den Kapitalismus ist, würden wir lügen und wir würden Illusionen schaffen.

Die EU ist nur ein Ausdruck des Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium. Das bedeutet, dass die Mechanismen, die die EU geschaffen haben, immer noch existieren. Unser Angriffsziel an sich kann also nicht die EU, sondern muss das kapitalistische System sein. Wenn wir damit zufrieden wären, nur die EU anzugreifen, würden die Kapitalisten einfach andere Arten der Organisierung finden, die den Interessen der Monopolgruppen entsprechen würden.

Die Frage lautet also nicht einfach: EU oder nicht, sondern: Sozialismus oder Kapitalismus?

Was wir machen müssen, ist, die Macht der Arbeiter zu stärken. Diese Macht gibt es nicht in den Parlamenten – obwohl wir die Parlamente ausnützen können –, und wir können nicht diese Macht durch die kapitalistischen Institutionen ausüben. Dann würden wir die Ausbeutung legitimieren. Die Macht der Arbeiter gibt es in ihren eigenen Organisationen, im eigenen Alltag der Arbeiter und an den Arbeitsplätzen. Durch Organisierung und Mobilisierung lernen die Arbeiter die Ausübung dieser Macht und sie lernen, dass sie ein kräftiges Mittel ist für die Erschaffung der Volksmacht.

Dort gibt es auch die Demokratie. Durch die eigenen Organe der Völker und Arbeiter können sie ihre eigene Demokratie ausüben, in Opposition zur Macht der Kapitalisten. Durch die Teilnahme an den täglichen demokratischen Prozessen wird eine wahre Demokratie gesichert – die Demokratie, die nur gegen die EU und das ganze kapitalistische System aufgebaut werden kann.

Notwendig ist auch die Überwindung der nationalistischen Illusionen vieler Linker. Es geht nicht um die Nation, sondern um die Arbeitermacht.

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