100 Jahre Ungarische Räterepublik

Und wieder tanzt die Reaktion…

Das Ende der Ungarische Räterepublik vor 100 Jahren wird von der bürgerlichen Medienlandschaft abgefeiert

Die Hoffnung erwies sich letztlich als trügerisch: Dass nämlich das in diesem Jahr entfallende politische Sommerloch das Interesse des bürgerlichen Medienmainstreams am runden Geburtstag der Ungarischen Räterepublik (und am ebenso runden Jahrestag ihres Untergangs) zu schmälern vermag. Auf besonderes Interesse stieß das Ende der Räterepublik am 1. August 1919 dabei im Burgenland, handelt es sich sich hierbei doch um das einzige Bundesland Österreichs, das für immerhin 133 Tage (vom 21. März bis 1. August 1919) Teil eines sozialistischen Staatsgebildes war – erst Ende 1921 sollte Westungarn unter dem Namen „Burgenland“ bekanntlich seinen Weg zu Österreich finden. 

Der Grundtenor der einschlägigen Beiträge im „Standard“, der Hauspostille des österreichischen Bildungsbürgertums grün-liberalistischen Couleurs, weist in dieselbe Richtung wie die eher handgestricktere Variante im burgenländischen Leitmedium und sozialdemokratischen Landeshauptmann-Funk, dem ORF Landesstudio Burgenland: Ungarische Räterepublik gleich Unrechtsregime gleich rote Terrorherrschaft. Es erscheint vor dem Hintergrund dieser Berichterstattung tatsächlich verwunderlich, dass es für Österreich im Jahr 1921 überhaupt noch etwas in Besitz zu nehmen gab.

Selbstverständlich sieht die historische Wahrheit etwas anders aus, als es sich die ORF-Redakteure am Eisenstädter Leithakamm oder der bekennende Austria Wien-Anhänger Wolfgang Weisgram zusammenreimen wollen. Über Errungenschaften der Räterepublik – erstmaliges geschlechterunabhängiges, freies, gleiches und geheimes Wahlrecht für alle ungarischen Staatsangehörigen, Erhöhung der Reallöhne, Erhöhung der Renten der Kriegsopfer, Ausdehnung der Kranken- und Unfallversicherung, kostenlose Gesundheitsfürsorge, Einführung des Achtstundentags, Senkung der Mieten und Verwirklichung einer beispiellosen Umverteilungsaktion am Wohnungssektor, Verstaatlichung des Schulwesens, Kommunalisierung zentraler Wirtschaftsbetriebe etc. etc. etc. – wird generös hinweggeschwiegen, im Gegenzug aber und überaus hysterisch jeder noch so aufwieglerische burgenländisch-westungarische Dorfgeistliche als Opfer einer bestialischen Mordmaschinerie glorifiziert, die offenbar archetypisch durch den Führer einer schnellen militärischen Eingreiftruppe („Leninbuben“) und späteren Volkskommissar für militärische Angelegenheiten, Tibor Szamuely, personifiziert werden soll. Selbst eine illustre Publikation wie das „Schwarzbuch des Kommunismus“ tat sich im Jahr 1997 schwer, die von ihm aufgezählten 129 Todesopfer der Ungarischen Räterepublik als Beleg für eine bolschewistische Schreckensherrschaft und ein bluttriefendes Terrorregime jenseits der Leitha zu rezipieren. So zeigt sich, dass auch die Geschichte der bürgerlichen Wissenschaft eine Geschichte ist, die sich wiederholt: einmal als Tragödie, dann als Farce.

Zwei Aspekte stechen bei diesem Offenbarungseid eines liberalistischen Geschichtsverständnisses, dem ein antikommunistisches Narrativ gewissermaßen genetisch eingeschrieben ist, besonders ins Auge: Die mantraartige Beschwörung einer ahistorischen Rechtsstaatlichkeit sowie eine quasi-religiöse Anbetung des Privateigentums (an Produktionsmitteln), mit der die Dogmatik-Kommission des Vatikans ihre reinste Freude hätte. 

So wird also von Revolutionstribunalen mit zweifelhaften rechtsstaatlichen Standards fabuliert, ohne auch nur einen Gedanken an die historische, gesellschaftspolitische wie militärische Ausnahmesituation zu verschwenden, in denen sich die Ungarische Räterepublik von ihrem ersten Tag an befand. Hätte man die habsburgischen Militärrichter, an denen das Blut ungezählter Arbeiterinnen und Arbeiter, einfacher Soldaten und vermeintlich aufständischer Zivilbevölkerung klebte, denn weiterbeschäftigen sollen, ähnlich wie nach 1945 in der Bundesrepublik Deutschland oder in der wieder errichteten Republik Österreich vormalige NS-Richter oft glänzende Karrierewege in der Nachkriegsjustiz verfolgen konnten? Studien von Hans Hautmann zur habsburgischen Militärdiktatur im Ersten Weltkrieg, von Gerhard Oberkofler und Eduard Rabofsky zu schwarz-gelben Militärrichtern und zu den weit ausholenden Wurzeln der NS-Justiz oder aus dem Fundus der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz werden in diesem Kontext mit lässiger Hand beiseite geschoben bzw., auf gut Österreichisch, nicht einmal ignoriert.

Auf der anderen Seite bringt es eine Einrichtung zu einem gottgegebenem Status, die selbst vom aufgeklärten Bürgertum lange Zeit kritisch beäugt wurde: die Fortexistenz des (halb-)adeligen Großgrundbesitzes im Burgenland in Gestalt der Familie Esterházy-Ottrubay, die nach wie vor knapp 50.000 Hektar besten burgenländischen Heide‑, Wald- und Seebodens – der Neusiedler See ist nämlich zum größten Teil esterházyscher Privatbesitz – ihr Eigen nennen darf. Zur alltagspraktischen Einordnung: Ein Fußballfeld bemisst sich im Normalfall auf ca. 1,1 Hektar. Angesichts von Quadratmeterpreisen weit jenseits der 100 Euro selbst in Normallagen des Eisenstädter Bezirks mag sich jeder nun selbst ausrechnen, welch monströses Umverteilungsprogramm hier vor unser aller Nasen ungeniert fortexistiert. Die Ungarische Räterepublik machte 1919 Schluss mit diesem Stück Mittelalter inmitten der Moderne – man hat es ihr nicht verziehen.

Zweifellos wäre es jedoch nach wie vor ein lohnenswertes Unterfangen, sich aus marxistisch-leninistischer Perspektive den inneren Entwicklungen, Leistungen und Problemen der Ungarischen Räterepublik anzunehmen und hier an durchaus (auch) gehaltvolle Diskussionen aus der Zeit der Existenz realsozialistischer Staaten in Mittel- und Osteuropa anzuschließen. Konnte ein Programm, das nicht dem Landhunger der Mehrheit der ungarischen Bevölkerung Rechnung trug, in Krisenzeiten und unter den Bedingungen internationaler Isolierung überhaupt erfolgreich sein? Erwies es sich nicht als geradezu fatal, in jenen Zeiten auch auf Personen der vormaligen Ungarischen Sozialdemokratischen Partei zu bauen, die jeder revolutionären Umwälzung im Grunde feindlich gegenüber standen? War das gleichsam föderative wie integrative Nationalitätenkonzept der Räterepublik gegenüber deutsch- oder rumänischsprechenden Bevölkerungsteilen zukunftsweisend?

Im besten Fall ist die historische Auseinandersetzung, die sich selbst als „linksliberal“ verstehende Publizisten wie Wolfgang Weisgram betreiben, ahistorische Effekthascherei in Form einer pseudointellektuellen Clownerie – oftmals jedoch ist es einfach nur blanker Unsinn, der sie zu objektiven Vertretern einer geschichts- wie gesellschaftspolitischen Reaktion werden lässt. Schade eigentlich. Dass man es auch besser machen kann, beweist ein im letzten Jahr im Promedia-Verlag erschienener Sammelband zur Räterepublik, herausgegeben vom Schweizer Historiker Christian Koller und dem Wiener Kulturwissenschaftler Matthias Marschik („Die ungarische Räterepublik 1919. Innenansichten – Außenperspektiven – Folgewirkungen, Wien 2018, 280 Seiten). Wenngleich auch hier zentrale Aspekte der Räterepublik unthematisiert bleiben (besonders ins Auge sticht etwa das Fehlen eines eigenen Beitrages zu Westungarn/Burgenland in Räteungarn), so handelt es sich doch um eine empfehlenswerte Lektüre für einen ersten Einstieg in das Thema.

PS: Der vormalige Fremdenpolizist des Innenministeriums und seit Februar d. J. neu amtierende burgenländische Landeshauptmann Hans-Peter Doskozil von der SPÖ hat als eine seiner ersten Amtshandlungen alle vom Land Burgenland gegen die Familie Esterházy-Ottrubay geführten Prozesse beendet und eine neue Phase der Zusammenarbeit zwischen Land und Großgrundbesitz eingeläutet.

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