Von Tibor Zenker (aus: „Vorwärts – Die sozialistische Zeitung“, Zürich, Ausgabe vom 28. September 2017)
Im November dieses Jahres begehen wir das 100. Jubiläum der Grossen Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland. Am 7. November 1917 siegte der von Lenins Bolschewiki angeführte Aufstand gegen die bürgerliche Regierung. Mit der Russischen Sowjetrepublik wurde der erste proletarische, sozialistische Staat der Menschheitsgeschichte gegründet, der einige Jahre später zur UdSSR, zur Sowjetunion erweitert wurde.
Der sozialistische Arbeiterstaat im grössten Land der Erde trotzte dem von konterrevolutionären Kräften betriebenen Bürgerkrieg ebenso wie der imperialistischen Intervention der Westmächte. Der UdSSR gelang es im Zweiten Weltkrieg, die bis dahin gewaltigste und gewalttätigste militärische Vernichtungsmaschinerie – jene des deutschen NS-Faschismus – nicht nur aus dem eigenen Land zu vertreiben, sondern sie bis nach Berlin zu verfolgen und zu besiegen. Im Gefolge dessen wurden in Europa Volksdemokratien und sozialistische Staaten geschaffen, schliesslich wurde der Sozialismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Weltsystems, u.a. mit der Errichtung der Volksrepublik China im bevölkerungsreichsten Land der Erde, mit dem Sieg des vietnamesischen Volkes über den französischen und US-Imperialismus oder mit dem Sieg der Revolution in Kuba, direkt vor der Haustür der USA. Das klassische Kolonialsystem brach zusammen, selbst in Westeuropa stand die Revolte auf der Agenda, wenngleich sich daraus lediglich der soziale Wohlfahrtsstaat des Keynesianismus als vorübergehende Antwort im Rahmen des Kapitalismus ergab.
All’ dies wäre ohne den Impetus der Oktoberrevolution undenkbar gewesen, weshalb hier das entscheidende Ereignis des 20. Jahrhunderts vorliegt, das dieses prägen sollte. Und doch kam es ab 1989 in der UdSSR und Osteuropa zur „Wende“, zur Konterrevolution und zur kapitalistischen Restauration. Somit stellen sich unweigerlich die Fragen: Was bleibt von der Oktoberrevolution? Und was können die gegenwärtigen Kommunisten und Revolutionäre von ihr, ihrem Verlauf und ihren Folgen lernen?
Das zu Beginn der 1990er Jahre ausgerufene „Ende der Geschichte“, wonach mit dem Ende des realen Systemstreits der bürgerlich-kapitalistische Demokratismus für alle Zeiten zum alleinigen Herrschaftsmodell erklärt wurde, ist lediglich Wunschdenken der Herrschenden. Die Kapitalismusanalyse von Karl Marx, die dieser vor genau 150 Jahren in seinem ökonomischen Hauptwerk „Das Kapital“ darstellte, trifft auch auf die Gegenwart zu: Eine Minderheit der Reichen und Superreichen besitzt die Produktionsmittel, während der Rest der Menschheit nur über seine Arbeitskraft verfügt und diese gegen Lohn an die Kapitalisten verkaufen muss. Der Arbeiter bleibt hierbei auf seinem Stande – und damit übrigens historisches Subjekt –, während die Reichen durch Aneignung des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts immer reicher werden. Ähnliches gilt für Lenins Analyse des modernen Kapitalismus (Monopolkapitalismus oder Imperialismus), die dieser vor etwas mehr als 100 Jahren in Zürich erarbeitete: Wenige Konzerne und Banken (Monopole) bestimmen die Weltwirtschaft und zunehmend die Politik, gemeinsam mit ihren imperialistischen Staaten wetteifern sie um Einflusssphären, Rohstoffe, Marktanteile und billige Arbeitskräfte, sie beuten ganze Länder aus und unterdrücken die Völker mit wirtschaftlichen, politischen und militärischen Mitteln. Dieses System stellt global Milliarden Menschen in objektiven Gegensatz zu den Monopolen und zum Kapitalismus überhaupt, während eine kleine Élite profitiert – ein zweifellos unhaltbarer Zustand. Deshalb schrieb Lenin 1916 auch, der Imperialismus sei der „Vorabend der sozialen Revolution“ der Arbeiterklasse – und die Oktoberrevolution lieferte bald darauf den ersten praktischen Beweis. Daran ändern auch die Rückschläge von 1989 – 1991 nichts: Die Menschheit befindet sich in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.
Der Antrieb dieser Entwicklung ist der Klassenkampf, der permanent und weltweit geführt wird. Momentan hat das Kapital deutlich die Oberhand: Die Zerschlagung der UdSSR, die Internationalisierung des kapitalistischen Produktionsprozesses („Globalisierung“), die Neuentfaltung des aggressiven und repressiven Wesens des Imperialismus („Neoliberalismus“) sowie die autoritären Überwindungsmassnahmen gegenüber der Weltwirtschaftskrise zeugen von dieser Offensive des Kapitals. Demgegenüber sind die Kräfte des antikapitalistischen und antiimperialistischen Widerstandes v.a. in Europa stark unterentwickelt und fern einer revolutionären Gegenoffensive. Das entsprechende Bewusstsein muss die Massen erst (wieder) erfassen, durch beharrliche Aufklärungsarbeit der (noch) bestehenden Teile der revolutionären Bewegung. Und dies wird unerlässlich sein: Die Erfahrung der Oktoberrevolution – und das gleichzeitige Scheitern revolutionärer Bestrebungen in Westeuropa – lehrt, dass es eine zielsichere Organisierung der Arbeiterklasse braucht, um für die Aufgaben der Revolution gewappnet zu sein. Die sozialistische Revolution bedeutet die politische Machtergreifung der Arbeiterklasse und in ökonomischer Hinsicht die Überführung des Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. Beides kann die Arbeiterklasse nur organisiert durchführen, zunächst als organisierte Kampfeinheit, sodann organisiert als herrschende Klasse.
Die Vorbedingung revolutionärer Organisierung und Bewegung ist die revolutionäre Theorie. Es braucht die Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge und deren Ablauf, es braucht ein Analysewerkzeug und eine Anleitung zum Handeln. Dies bietet der wissenschaftliche Sozialismus unserer Zeit, der Marxismus-Leninismus. Er liefert nicht nur Kapitalismus‑, Imperialismus- und Klassenanalyse, sondern auch partei- und revolutionstheoretische Ansätze, ohne die es nicht gehen wird. Die Erfahrungen der Oktoberrevolution zeigen, dass z.B. die Existenz einer marxistisch-leninistischen Kampfpartei der Arbeiterklasse, eine erfolgreiche Bündnispolitik um sie herum sowie konsequente Disziplin beim Ansteuern des strategischen Zieles unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Revolution sind. Sie zeigen auch, dass die Diktatur der Arbeiterklasse – im russischen Fall in Form der Sowjets – ein unbedingtes Erfordernis darstellt, um die revolutionäre Macht zu verteidigen und zu konsolidieren, um den Sozialismus aufzubauen. Jedes Abweichen von den Grundprinzipien des Marxismus-Leninismus – auch dies ist ein historisches Entwicklungsergebnis der Sowjetunion ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre – befördert das Scheitern. So wie der Opportunismus und Reformismus einst im Vorfeld des Ersten Weltkrieges die Parteien der II. Internationale kampf- und handlungsunfähig machte, schwächte der moderne Revisionismus in der KPdSU die innere Entwicklung der UdSSR, bis diese dem Druck von aussen nicht mehr standhalten konnte. Die Verteidigung, gewusste Anwendung und schöpferische Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus sind unverzichtbar, wohingegen Revisionismus und opportunistische Willkür (ebenso wie Dogmatismus) in die Irre leiten.
Eine unmittelbare Folge der Oktoberrevolution war die Trennung der alten Arbeiterparteien in Unterstützer und Gegner der Revolution, in Revolutionäre und Reformisten, in Kommunisten und Sozialdemokraten. Mit Schaffung der III., kommunistischen Internationale wurde dies 1919 besiegelt, mit der „Bolschewisierung“ der Komintern-Parteien ab Mitte der 1920er Jahre erhielten diese die nötigen Strukturen und gemeinsamen ideologischen und strategischen Grundlagen. Die damals begründete kommunistische Weltbewegung hat seither einige Brüche erlebt, die erheblichsten wohl seit Beginn der 1990er Jahre. Der Differenzierungsprozess der letzten 25 Jahre hat die europäische Parteienlandschaft links der Sozialdemokratie durcheinander gewürfelt. Ob Ost- oder Westpartei – es gab im Wesentlichen drei Entwicklungsmöglichkeiten (wobei dies in einzelnen Parteien noch nicht endgültig entschieden sein mag):
Einige kommunistische Parteien bzw. deren juristische Nachfolgestrukturen verwandelten sich in reine sozialdemokratische Organisationen (hierfür steht z.B. das Schicksal der Italienischen KP, die sich über Zwischenstufen in die „Demokratische Partei“ verwandelte) – diese Parteien brauchen uns hier nicht weiter interessieren.
Manch andere Partei legte ihre kommunistische Identität ebenso ab, verblieb jedoch im Bereich des Linkspluralismus oder des scheinbaren „Linkssozialismus“, wie z.B. die deutsche Partei „Die Linke“, wenn man sie in gewisser Kontinuität mit der SED sieht, aber auch wie etwa – ungeachtet des Namens – die KP Österreichs. Diesen Parteien ist zumeist gemein, dass sie den Bezug auf die Arbeiterklasse, die Bejahung des Klassenkampfes, die Revolution und den Sozialismus aufgegeben haben, somit natürlich auch jeden ernsthaften marxistischen Anspruch. Sie setzen stattdessen auf eine reformistische („transformatorische“) Verbesserung des Kapitalismus, die sie in einer illusorischen „solidarischen Gesellschaft“ erblicken. In Europa sind einige dieser Parteien – gemeinsam mit Neugründungen wie Syriza – in der „Partei der Europäischen Linken“ organisiert. Syriza ist gleichzeitig das Stichwort für das Dilemma dieser Parteien: Einmal in Regierungsverantwortung, betreiben sie lediglich Kapitalismusverwaltung, im griechischen Fall sogar der besonders grässlichen, antisozialsten Sorte. Das ist nur folgerichtig, denn unter Preisgabe von Klassenkampf und Revolution wird es immer wieder nur Ausbeutung und Unterdrückung geben. Einen anderen Kapitalismus, wie ihn die EL-Parteien suggerieren, gibt es nicht, egal wer in den bürgerlichen Parlamenten und in der Regierung sitzt.
Die dritte Gruppe bilden jene Parteien, die den Weg einer Erneuerung auf marxistisch-leninistischer Grundlage beschreiten. Bekanntestes Beispiel ist die KP Griechenlands, aber auch etwa der Portugiesischen KP sowie der Deutschen KP muss man entsprechende Bemühungen anrechnen. Auch in diesem Bereich kam es zu (notwendigen) Neugründungen, darunter z.B. die Partei der Arbeit Österreichs, sowie zu internationalen Kooperationen (Europäische Kommunistische Initiative).
Es versteht sich von selbst, dass sich lediglich die Parteien der dritten Gruppe bewusst und in aller Konsequenz in die Tradition der Oktoberrevolution und der Bolschewiki stellen. Sie übernehmen die Historie der kommunistischen Weltbewegung und das Werkzeug des Marxismus-Leninismus. Aus allen geschichtlichen Erfahrungen lässt sich ableiten, dass nur Parteien dieses Typs in der Zukunft befähigt sein werden, die revolutionäre Sache der Arbeiterklasse voranzutreiben, bis zur sozialistischen Revolution und darüber hinaus. Neben den verbliebenen Staaten sozialistischen Charakters oder solchen auf einem sozialistischen Entwicklungsweg, sind diese Parteien gleichzeitig das Haupterbe und die Haupterben der Oktoberrevolution. An ihnen wird es liegen, mit der Arbeiterklasse den nächsten Roten Oktober vorzubereiten, der unausweichlich kommen wird.