100 Jahre österreichische Republik

Kommentar von Tibor Zenker, stv. Vorsitzender der Partei der Arbeit Österreichs (PdA)

Vor 100 Jahren, am 12. November 1918, wurde in Wien Österreich als Republik neu konstituiert – als Erste Republik, wie man heute weiß, nachdem sich 1945 eine Zweite als notwendig erwies.

Hunderttausende Menschen sammelten sich an jenem Tag auf der Ringstraße vor dem Parlamentsgebäude, in dem bislang der kaiserliche Reichsrat zu tagen pflegte. Die Massen standen dicht gedrängt, die beiden Rampen hinauf bis unter die Säulenarkaden. Die monumentale Marmorstatue der Pallas Athene Austria am Vorplatz, der in den letzten Kriegsjahren die kleine goldene Nike aus den Händen geglitten war und die sonst allegorisch von Donau, Inn, Moldau und Elbe umflutet wird, war von Menschenwogen umspült und eingekesselt. Es ist ein national-ikonisches Bild, zunächst eine Fotografie, die aus leicht südlicher Richtung, vermutlich vom vorderen Schmerlingplatz aus, die Ausrufung der Republik festhält, von Rudolf Konopa noch binnen desselben Jahres in ein Ölgemälde gefasst.

In der Menschenmenge dominierten die roten Fahnen der proletarischen Revolution – nicht die rot-weiß-roten Österreichs. Schließlich entledigten Mitglieder der erst wenige Tage zuvor gegründeten Kommunistischen Partei und der Roten Garde auch die Fahnen auf den hohen Flaggenmästen vor dem Parlament ihres weißen Streifens. Die Botschaft der Massen war klar und deutlich, schriftlich war sie auf einem großen Transparent, das revolutionäre Arbeiter aus Floridsdorf mitgebracht hatten, vor den Säulen des Haupteingangs zu lesen: „Hoch die sozialistische Republik!“, stand da in großen Buchstaben, bejubelt nicht nur von den Kommunisten und der Roten Garde, sondern auch von den sich organisierenden Arbeitern von Wien, die immer noch an die revolutionäre Mission der alten Sozialdemokratie glaubten. Sie wollten in einem Zug nicht nur die Monarchie der Habsburger, sondern auch den Kapitalismus überwinden, die bürgerliche Revolution in eine sozialistische verwandeln.

Der betagte Vorsitzende der Sozialdemokratie, der Arzt Victor Adler, der zum Jahreswechsel 1888/89 im niederösterreichischen Hainfeld die Sozialdemokratische Arbeiterpartei aus der Taufe gehoben und in den letzten 30 Jahren zu einer Massenpartei nach Vorbild der SPD aufgebaut hatte, war am Vortag, am 11. November 1918, verstorben. Seine Erben negierten ihre eigene Programmatik, ihre Mitgliederbasis und Anhängerschaft. Es blieb im und vorm Parlament bei der Ausrufung der bürgerlich-demokratischen Republik durch den deutschnationalen Abgeordneten Franz Dinghofer, eskortiert durch Adlers Nachfolger an der SP-Spitze und späteren Wiener Bürgermeister Karl Seitz. Die Sozialdemokraten begnügten sich damit, die Regierungsführung zu übernehmen: In einer großen Koalition aus SP und konservativer Christlichsozialer Partei (CSP) – der Vorläuferpartei der heutigen ÖVP – stellte sie mit dem Parteirechten Karl Renner bis 1920 den Kanzler.

Es ist ein bleibendes „Verdienst“ der österreichischen Sozialdemokratie, in den Jahren 1918/19, als die Macht abholbereit für die Arbeiterklasse auf der Straße lag, unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution, des österreichischen Jännerstreiks sowie der bayrischen und ungarischen Räterepublik, den Kapitalismus doch noch vor der sozialistischen Revolution gerettet zu haben. Otto Bauer, Wortführer des linksreformistischen „Austromarxismus“, rühmte sich später der zweifellos korrekten Tatsache, dass dies damals keiner bürgerlichen Partei mehr gelungen wäre. Die Regierung Renner begnügte sich mit demokratischen und sozialen Reformen, darunter das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen, der Achtstunden-Arbeitstag, Arbeitslosenunterstützung, gesetzliche Urlaubsansprüche, Betriebsräte und die Arbeiterkammer, im „roten Wien“ kamen der soziale Wohnbau, Schulreformen und Ansätze eines öffentlichen Gesundheitswesens hinzu. Für eine unbestimmte Zukunft wurde, radikalrhetorisch aufgeladen, die Revolution mit dem Stimmzettel versprochen, die freilich ausbleiben musste. Dies sollte sich rächen – und die Kommunistinnen und Kommunisten haben das damals schon gewusst oder zumindest geahnt.

Denn in Wirklichkeit lag die österreichische Bourgeoisie 1918 am Boden: Den imperialistischen Aggressionskrieg hatte sie mit den deutschen Bündnispartnern verloren, der bislang integrative Kaiserthron war verwaist, in der Nationalversammlung gab es eine rote Mehrheit, die Rätebewegung fasste Fuß und – nicht zuletzt – das österreichische Kapital hatte über 80% seines bisherigen Territoriums verloren. Die von Wien aus regierte Großmacht, nach Russland der zweitgrößte Staat Europas, war zerstört, zurück blieb ein überdimensionierter Rumpfimperialismus, der bis heute seine Mission in Ost- und Südosteuropa sieht – was seit 1989/90 sowie nach dem EU-Beitritt Österreichs 1995 auch wieder tadellos funktioniert, auch wenn hierfür mehrere jugoslawische Bürgerkriege und eine NATO-Aggression nötig waren.

1918 war dies noch nicht absehbar, im Gegenteil: Mit Südtirol und dem Sudetenland gingen weitere Gebiete verloren, der angestrebte Anschluss an Deutschland wurde von den Entente-Mächten untersagt. Es dauerte bis nach der Weltwirtschaftskrise, dass die österreichische Bourgeoisie ökonomisch wieder vollständig auf die Beine kam. Politisch jedoch konnte die CSP bereits 1920 wieder eine Regierung ohne Sozialdemokraten stellen – und in die Offensive gehen: Der „revolutionäre Schutt“ – gemeint waren die sozialdemokratischen Reformen – sollte beseitigt und das immer noch SP-regierte „rote Wien“ gestürzt werden. Die reaktionärsten Kräfte des österreichischen Großkapitals und Grundbesitzes bedienten sich hierfür schließlich eines neuen Werkzeuges – des Faschismus.

Das Kapital verfolgte hierbei eine Doppelstrategie: Während die Heimwehr als faschistische Bewegung den sozialdemokratischen Republikanischen Schutzbund sowie die immer wieder lästigen Kommunisten in Schach halten sollte, machten sich die christlichsozialen-großdeutschen Regierungen an die Faschisierung des Staatsapparates. Die Vorboten 1927 und 1930 waren deutlich, im März 1933 wurden das Parlament und der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet, die KPÖ wurde verboten, und das Kabinett von Kanzler Engelbert Dollfuß übernahm mittels autoritärer verfassungswidriger Regierungsgesetzgebung schrittweise immer größere Teile der Macht. Der Aufstandsversuch von revolutionären Teilen der Basis des Schutzbundes im Februar 1934 war demgegenüber ehrenvoll und mutig, aber zum Scheitern verurteilt – die Kapitulationspolitik der Sozialdemokratie hatte die Arbeiterklasse abermals, zum dritten Mal nach 1914 und 1918, im Stich gelassen und verraten. Die Niederschlagung der Februarkämpfe führte zur Illegalisierung der Sozialdemokratie und mit 1. Mai 1934 zur Errichtung des so genannten österreichischen „Ständestaates“, der austrofaschistischen Diktatur unter Dollfuß und seinem Nachfolger Kurt Schuschnigg. Damit war die kurze Geschichte der Ersten Republik nach etwas mehr als 15 Jahren endgültig beendet. Dass der Austrofaschismus nach weiteren vier Jahren aber schon wieder vom NS-Faschismus und der deutschen Fremdherrschaft ersetzt wurde, war eine logische Folge: Die „christlichsozialen“ Austrofaschisten hatten Österreich jede ernsthafte Mobilisierungsmöglichkeit zur militärischen Verteidigung genommen, die deutschnationale Anschlusspropaganda und die Definition Österreichs als zweiter „deutscher Staat“, wie sie CSP und Sozialdemokratie seit 1918 auf antiösterreichische Weise betrieben hatten und wogegen sich nur die KPÖ verwehrte, hatten ideologisch das Übrige zur relativ friktionsfreien Okkupation und Annexion, zum Ende der österreichischen Unabhängigkeit getan.

Abermals hielten 1938 – 1945 vor allem die kommunistischen Kräfte im antifaschistischen Widerstand und im Kampf gegen die deutsche Fremdherrschaft die Stellung, im geringeren Ausmaß waren auch sozialdemokratische und christliche Demokraten aktiv, wobei die offizielle antikommunistische Geschichtsschreibung dieses Verhältnis gerne ins Gegenteil verfälscht. Die Kommunisten leisteten den im der Moskauer Deklaration der Anti-Hitler-Koalition geforderten eigenen österreichischen Beitrag zur Befreiung und lieferten mit der Theorie der eigenständigen österreichischen Nation auch die Basis für die Wiedererstehung des Landes.

Am 27. April 1945, während in Teilen Österreichs noch Kämpfe zwischen der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee der Sowjetunion stattfanden, Wien aber schon befreit war, erklärten Vertreter von SPÖ, ÖVP und KPÖ die österreichische Unabhängigkeit von Deutschland. Auf Grundlage der Verfassung von 1920 wurde die Zweite Republik gegründet. Doch die Sozialdemokratie verpasste es abermals, mit dem Kapitalismus, der nun zwei Weltkriege, den Faschismus und den Holocaust zu verantworten hatte, Schluss zu machen. Der SPÖ-Kanzler Renner, der 1945 zum zweiten Mal nach 1918 als Regierungschef an der Wiege der Republik stand, und die SPÖ-Vorsitzenden verständigten sich mit den ehemaligen Austrofaschisten der ÖVP auf einen antikommunistischen Block, um neuerlich den Kapitalismus in Österreich zu retten. Die volksdemokratische und sozialistische Orientierung, die von der KPÖ vorgeschlagen wurde, lehnte die SPÖ, die nun endgültig zur antisozialistischen Partei geworden war, ab, womit die sozialdemokratische Tragödie von 1918 auch ihre Farce erhielt, inklusive weiterer Rechtsentwicklung bis heute.

Die Partei der Arbeit Österreichs (PdA) negiert keineswegs den Fortschritt, den eine bürgerlich-demokratische, parlamentarische Republik gegenüber der konstitutionellen Monarchie bis 1918 darstellt. Allerdings lag in den Jahren 1918/19 in Österreich eine akut revolutionäre Situation vor, die den völligen Bruch mit dem Kapitalismus und Imperialismus und den Übergang zum Sozialismus ermöglicht hätte. Zweifellos wäre dies nicht einfach gewesen, doch vieles hätte man sich und den Völkern Europas ersparen können. Doch wir leben nicht im Konjunktiv: Wir ehren die sozialistischen Revolutionäre, die Kommunisten und die revolutionären Arbeiter und Soldaten von 1918, die Aktivisten des großen Jännerstreiks und die aufständischen österreichischen Matrosen von Kotor, die Verteidiger der ungarischen Räterepublik im Burgenland und darüber hinaus, die Mitglieder der KPÖ und des KJV in der Ersten Republik, die Februarkämpfer und den antifaschistischen Widerstand 1934 – 1945. Indem wir ihr Werk fortsetzen, kämpfen wir für die erste sozialistische Republik Österreich, deren Tag gewiss kommen wird.

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