Gramsci im 100. Jahr des Roten Oktober
Von Hannes A. Fellner (UZ-Ausgabe vom 14. Juli 2017)
“Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.”
Dieses Jahr steht im Zeichen des hundertjährigen Jubiläums der Epoche markierenden Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Die Denk- und Werkzeuge marxistischer Theorie und Praxis für diese Epoche, die – trotz alledem – immer noch jene des Übergangs von Kapitalismus zu Sozialismus ist, wurden entscheidend von Antonio Gramsci (22. Januar 1891 – 27. April 1937) geprägt. Dieser war einer der wichtigsten Organisatoren der kommunistischen Bewegung Italiens und als Klassiker der III. Internationale einer der bedeutendsten Denker des Marxismus.
Gramsci war ein in unmittelbarer Tradition Lenins stehender Stratege des Klassenkampfes des sich (nicht zuletzt mittels der Sozialdemokratie) nach der die Welt Oktoberrevolution re-konsolidierenden Kapitalismus. Gramscis Analysen und Verständnis der Schichtungen und Mechanismen der bürgerlichen Klassengesellschaft und die sich aus ihnen ergebenden politisch-organisatorischen Handlungsmöglichkeiten und ‑anweisungen zum Klassenkampf sind heute aktueller denn je.
Nach dem Ausbleiben der Revolution beziehungsweise deren Niederschlagung und Verrat in den Metropolen der westlichen Industriestaaten im Gefolge des Roten Oktober versteht Gramsci den langfristigen Klassenkampf der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten (=Subalternen) als ‚Stellungskrieg‘. In diesem kämpfen sie um (Gegen-)Hegemonie, um die „intellektuelle und moralische Führung“ (GH 8, 1947). Gramsci erkennt, dass die im Kapitalismus herrschende bürgerliche Hegemonie, d. h. die Konvergenz zwischen politischer Machtausübung (in der società politica) mit dem allgemeinen Selbstverständnis der Massen (in der società civile, der Zivilgesellschaft), neben Zwang der Repressionsorgane des Staates der Garant für das Fortbestehen des Kapitalismus ist. „Die ‚normale‘ Ausübung der Hegemonie auf dem klassisch gewordenen Feld des parlamentarischen Regimes zeichnet sich durch eine Kombination von Zwang und Konsens aus, ohne dass der Zwang den Konsens zu sehr überwiegt, sondern im Gegenteil vom Konsens der Mehrheit, wie er in den sogenannten Organen der öffentlichen Meinung zum Ausdruck kommt, getragen erscheint.“ (GH 1, 120).
Nach Gramsci kommt in diesem Zusammenhang gerade der Bildung eine entscheidende Bedeutung zu, denn für ihn gilt: „Jedes Verhältnis von ‚Hegemonie‘ ist notwendigerweise ein pädagogisches Verhältnis (…).“ (GH 10/II, 1335) Aus Gramscis Werk ergeben sich zwei Seiten der Konzeption von Bildung. Auf der einen Seite Bildung und Erziehung der Subalternen durch öffentliche und private, politisch- und zivilgesellschaftliche „Hegemonialapparate“ zum Konsens der Beherrschten mit den Herrschenden im Bereich von Sitten, Gebräuchen, Einstellungen, der kulturellen, geistigen und moralischen Mentalität, aber auch hinsichtlich jener der herrschenden Klasse zugute kommenden Kompetenzen und Fertigkeiten. Auf der anderen Seite Bildung und Erziehung als Bedingung der Möglichkeit von Mündigkeit, Emanzipation und Freiheit. Gramsci geht in Fortführung der marxistischen Klassiker vom Menschen als einem „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, als einem historisch-gesellschaftlich geprägt-prägendes, geformt-formendes, gebildet-bildendes, geworden-werdendes, erzogen-erziehendes gesellschaftlich tätigen Wesen aus. In diesem Sinn ist (Selbst-)Bildung für Gramsci der aktive Prozess, in welchem der Mensch sich als gesellschaftliches Wesen der Welt und seiner selbst immer mehr bewusst wird. Zum Bewusstsein der Welt und seiner selbst kommt der Mensch in der praktischen, gesellschaftlichen, „gegenständlichen Tätigkeit“, die mittels Sprache organisiert, vermittelt, reflektiert und weitergegeben wird. „Die Außenwelt, die allgemeinen Verhältnisse zu verändern, heißt sich zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln.“ (GH 6, 1341f.)
In der in, an und mittels der menschlich-gesellschaftlichen Praxis sich reflektierenden und reflektierten Bewusstwerdung und Einsicht der in der Wirklichkeit angelegten Möglichkeit und deren Gestaltung liegt die Freiheit des Menschen. „Sich eine Persönlichkeit bilden heißt dann, wenn die eigenen Persönlichkeit das Ensemble dieser Verhältnisse ist, ein Bewusstsein dieser Verhältnisse gewinnen, die eigene Persönlichkeit verändern heißt, das Ensemble dieser Verhältnisse verändern.“ (GH 10, 1348) Die Erkenntnis dessen, die Dialektik des Sich-Änderns, Geändert-Werdens, Gestaltens, Gestaltet-Werdens, Ändern-Könnens und Gestalten-Könnens führt – kollektiv erarbeitet – als Bewusst-Sein zur Selbstermächtigung der Menschen. Was der Mensch ist, beantwortet Gramsci dann so: „Wozu kann jeder Mensch werden, ob nämlich der Mensch das eigene Schicksal beherrschen kann, ob er ‚sich machen‘ kann, sich ein Leben schaffen kann. Sagen wir also, dass der Mensch ein Prozess ist und dass er genau der Prozess seiner Handlungen ist.“ (GH 6, 1346) Das eigene Schicksal beherrschen bedeutet folgerichtig für ihn „die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich (…), an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen“ (GH 1, 97). Hier ist ebenfalls der marxistische kategorische Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1: 380) mit angelegt.
In diesem Verständnis von Bildung als einer zentralen Kategorie des Klassenkampfes hebt die kollektive Praxis als und in der Bildungserfahrung den Unterschied zwischen Lehrenden und Lernenden auf (in der dreifachen Hegelschen Bedeutung von ‚aufheben’ als negieren, bewahren und auf eine höhere Stufe heben). Damit wird auch die Funktion von Intellektuellen neu bestimmt. Nach Gramsci sind „alle Menschen Intellektuelle (…) aber nicht alle Menschen haben in der Gesellschaft die Funktion von Intellektuellen.“ (GH 12, 1500) Die „traditionellen Intellektuellen“ der bürgerlichen Klasse (die oft meinen sie ständen über den Klassen) bestätigen die im Kapitalismus hegemoniale Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit und haben damit System verteidigenden und stabilisierenden Charakter.
Den „organischen Intellektuellen“ der Arbeiterklasse kommt jedoch die Aufgabe zu, die in den herrschenden Klassenverhältnissen verleumdeten und vergessenen intellektuellen Fähigkeiten und Tätigkeiten wiederzuentdecken und zu fördern, die unterdrückten und an den Rand gedrängten kulturellen Traditionen aufzugreifen und zu entwickeln, das Denken der Subalternen zu organisieren und ihre Weltanschauung zu systematisieren. Die fortschrittliche Professorin, der marxistisch orientierte Studierende, die HerausgeberInnen theoretischer Organe sind selbst bei einem Bekenntnis zur Arbeiterklasse nicht per se als ihre „organischen Intellektuellen“ zu betrachten.
„Organische Intellektuelle“ der Arbeiterklasse sind keine besondere Schicht innerhalb dieser, sie sind diejenigen Individuen, in welchen sich die in der Bewegung der Subalternen angelegte und schließlich gesamtgesellschaftlich anzustrebende Aufhebung des Gegensatzes von Lehrenden und Lernenden als (Selbst-)Anspruch und (Selbst-)Auftrag andeutet. Der/die „organische Intellektuelle“ ist gerade durch seine/ihre „Einmischung ins praktische Leben“ bestimmt, er/sie ist „Konstrukteur, Organisator, ‚dauerhaft Überzeugender’, weil nicht bloß Redner“ (GH 12, 1532). Als „organische/r Intellektuelle“ wirkt man als Teil eines Kollektivs, greift so aktiv in die Klassenkämpfe ein, ist so in den Bewegungen der Subalternen engagiert, vermittelt so Zusammenhänge, treibt so die Widersprüche voran, integriert und reflektiert so die alltäglichen Erfahrungen der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, hinterfragt so kritisch die „Jedermanns-Philosophie“ und knüpft so an den buon senso (gesunden Menschenverstand) an, eint und organisiert so als Vorbild mit Mut und Demut die (gegen-)hegemonialen Kräfte.
(Selbst-)Bildung der Subalternen ist nicht möglich ohne die Hervorbringung ihrer „organischen Intellektuellen“ so wie die Hervorbringung ihrer „organischen Intellektuellen“ nicht möglich ist ohne der Subalternen (Selbst-)Bildung. Diese Dialektik ist für Gramsci auf Engste mit der Frage der Organisation und Weltanschauung verschränkt. (Gegen-)Hegemonie lässt sich nicht ohne Bildung aufbauen, (Selbst-)Bildung nicht ohne wissenschaftliche Weltanschauung vollziehen, wissenschaftliche Weltanschauung nicht ohne organisierte Aktion und kollektive Tätigkeit erlangen.
Für Gramsci ist die Stärke der wissenschaftlichen Weltanschauung der „Philosophie der Praxis“, also der marxistischen, „die theoretische Ausarbeitung der bestimmenden Faktoren der Gegenwart (in ihrer Geschichtlichkeit, in ihrer kategorialen Struktur, auf dem Niveau der ‚bestimmten Abstraktion’ mit der Alltagserfahrung der politischen Praxis und dem sich darin ausbildenen senso commune der Massen) zu einer wohl differenzierten aber weltanschaulich homogenen Einheit zusammenzuschweißen, im Klassenkampf das ganze Spektrum der Manifestationen theoretisch vermittelter Praxis zu vereinheitlichen. Diese weltanschauliche Integration vollzieht sich in der politischen Aktivität und damit in der Politisierung des Bewusstseins. (…) Die Ideen aber verwirklichen sich nur im kollektiven Handeln der Menschen, Menschen geistig führen (also Hegemonie ausüben) und sie organisieren, ist ein und dasselbe. (…) „ (Holz 2011: 80f.) Für Gramsci kommt die Aufgabe der (gegen-)hegemonialen Bildung, der weltanschaulichen Integration und der kollektiven Organisation der Partei der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten zu. „Daher kann man sagen, dass die Parteien die Ausarbeiter der neuen integralen und ganzheitlichen Intellektualität sind.“ (GH 6, 1386) Er verdeutlicht „was zählt, ist die Funktion, die führende und organisierende, d. h. erzieherische, d. h. intellektuelle.“ (GH 12, 1506)
Gramscis Bildungskonzept muss für fortschrittliche Menschen heute konkret bedeuten:
• cui bono: Hinterfragen von (auch scheinbar fortschrittlichen) herrschenden Bildungsinhalten und ‑praxen
• Kritik herrschender Bildungspolitik und ‑institutionen
• Kampf um Demokratisierung herrschender Bildungspolitik und ‑institutionen
• Aufgreifen und Förderung marginalisierter Bildungsinhalte und ‑praxen
• Einsatz für die Aufhebung der Trennung von manueller und nicht-manueller Arbeit
All dies in Verbindung mit dem Ziel des Umsturzes „aller bisherigen Gesellschaftsordnung“.
Auf erbitterten Klassenkämpfen der Subalternen um Hegemonie – und das sollte man nie vergessen – beruhen letztlich alle in der Geschichte der Menschheit erzielten gesellschaftlichen Fortschritte, insbesondere im Bildungsbereich. Ginge es nach den Herrschenden, müss(t)en wir alle „lebenslang lernen“, uns von ihnen immer besser ausbeuten zu lassen und ihnen immer gefügiger zu werden.
Nicht zuletzt bedeutet Gramscis Bildungskonzept daher für fortschrittliche Menschen, dass sie sich politisch organisieren müssen, um die herrschende Hegemonie der bürgerlichen Klasse zu brechen und die Hegemonie der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten aufzubauen und durchsetzen zu können. „Doch Hegemonie ist noch nicht Sieg. Nur Voraussetzung für das Schwerste, Riskanteste: Die Entscheidung im Kampf um die Macht“ (Wimmer 1981: 40), die Revolution.
Literatur
• Gramsci, Antonio. 1991ff. Gefängnishefte – Kritische Gesamtausgabe. Hrg. v. Klaus Bochmann & Wolfgang Fritz Haug, Argument, Hamburg (GH)
• Gramsci, Antonio. 1991. Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag, Literatur. Hrg. v. Sabine Kebir. VSA, Hamburg
• Gramsci, Antonio. 1987. Gedanken zur Kultur. Hrsg. v. Guido Zami, Reclam Leipzig
• Holz, Hans Heinz. 2011. Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie. Die Klassiker der III. Internationale. Aurora, Berlin
• Wimmer, Ernst. 1982. Staat und Demokratie. Dritter Weg oder Revolution? Globus, Wien