Dieser Artikel von Peter Ostertag und Dominik Maier erschien in Heft 6 der Einheit und Widerspruch.
Einheit und Widerspruch ist ein von der PdA herausgegebenes Diskussionsorgan zur Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus. Der jeweilige Beitrag gibt die Meinung des Autors/der Autorin wieder und muss nicht unbedingt mit den Positionen und Beschlüssen der PdA übereinstimmen.
Marxismus-Leninismus und Philosophie
Die marxistisch-leninistische Weltanschauung ist wesentlich auch philosophische Weltanschauung. Eine revolutionäre Bewegung, die die menschliche Gesellschaft im Weltmaßstab von Grund auf umgestalten will, muss sie auch von Grund auf zu verstehen versuchen.
Philosophie und Theorie allgemein sind für eine revolutionäre Bewegung natürlich nie reiner Selbstzweck, sondern an ihrer politischen Bedeutung orientiert. Um es mit dem klassischen Marx-Zitat zu formulieren: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“ (Marx, MEW 3: 7) So hat auch die Programmkommission der Partei der Arbeit als einzige Voraussetzung für Beiträge in der E&W festgehalten: „Das geltende Kriterium lautet schlicht und einfach: Sämtliche Beiträge sollen für unsere politische Arbeit, unsere theoretische Debatte, unsere politische Theoriebildung fruchtbar sein können.“ (Programmkommission der PdA 2014: 3)
Diese Parteilichkeit in der Beurteilung theoretischer Beiträge könnte man als unwissenschaftlich, subjektiv, pragmatistisch abtun – und tatsächlich wird bürgerliche Ideologie nicht müde, marxistischem Denken genau dies vorzuwerfen. Jedoch ist das falsch. Wahrheit und Nützlichkeit für historischen Fortschritt müssen als objektiv zusammenfallend gedacht werden: „Was dem historischen Fortschritt in Richtung des marxistischen kategorischen Imperativs1 dient, wird somit zum Relevanz- und Wahrheitskriterium philosophischer Spekulation.“ (Klingersberger 2018: 51)
Die Parteilichkeit für den Kommunismus tritt eben nicht äußerlich an die Wahrheit heran, pickt sich willkürlich das zur eigenen Ideologie passende heraus und setzt ansonsten Scheuklappen auf. Sondern die Parteilichkeit für den Kommunismus will die ganze Wahrheit, so wie umgekehrt die ganze Wahrheit die Parteilichkeit für den Kommunismus impliziert. Wahrheit und progressive Parteilichkeit sind objektiv aufs Engste miteinander verwoben. Dies aufzuzeigen, ist die Aufgabe jeglicher materialistischen Dialektik und jeglicher marxistischen Aufklärungsarbeit, zumal die Verkehrtheit der kapitalistischen Gesellschaft es nicht unmittelbar einsichtig werden lässt.
Der Entwicklungsstand marxistischer Philosophie
Man könnte meinen, die marxistisch-leninistische Philosophie würde im Wesentlichen fertig vorliegen und es ginge nur noch darum, sie anzuwenden und zu verwirklichen. Tatsächlich findet man in marxistischer Philosophie mehr Wahrheit und Klarheit, mehr Orientierung und Nützlichkeit als in nicht-marxistischer Philosophie. Trotzdem kann man der legitimen Auffassung sein, dass neben der Verbreitung marxistischer Philosophie auch ihre weitere Vertiefung eine notwendige Voraussetzung ist, um angesichts der immer komplexer werdenden Wirklichkeit ausreichend Ordnung ins menschliche Denken zu bringen, sodass der weltweite Sturz der kapitalistischen Herrschaft und der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft möglich werden.
Der bedeutendste sich auf den Marxismus-Leninismus stützende Philosoph im deutschsprachigen Raum nach der Konterrevolution war Hans Heinz Holz. Seine Einschätzung über den Entwicklungsstand marxistischer Philosophie war, dass sie – zumindest im Vergleich dazu, was sie einmal werden soll, kann und muss – eigentlich erst in den Kinderschuhen steht: „Marxismus als Theorie gibt es seit dem ‚Kapital‘, Marxismus als politische Theorie gibt es seit Lenin. Aber Marxismus als Philosophie, das hat Lenin selbst und Stalin noch gesagt und Gramsci immer wieder ausgesprochen: die philosophische Erarbeitung dieser Denkstrukturen, die fehlt noch. Das ist die Aufgabe unserer Generation, nachdem wir jetzt die Grundlage der Ökonomie haben. Da haben wir ein Fundament. Für die Frage der politischen Organisation von Strategie und Taktik können wir uns kein besseres Beispiel als Lenin denken, aber Marx/Engels wie Lenin haben immer darauf hingewiesen, wir brauchen dazu die Philosophie, und sie haben sie benutzt, aber sie haben sie nie ausgebildet, nie entwickelt. Ich meine, das ist jetzt die philosophische Aufgabe von Marxisten.“ (Holz 2017: 109)
Vor dem Hintergrund einer solchen Einschätzung kann es unter bestimmten Bedingungen als sinnvoll erscheinen, eigene Organisationen zu schaffen, um dieser „philosophischen Aufgabe von Marxisten“ nachzukommen.
Schon Lenin wies darauf hin, dass es dabei vor allem auch um die Entwicklung dialektischen Denkens gehen müsse: Er wollte eine „Gesellschaft materialistischer Freunde der Hegelschen Dialektik“. (Lenin, LW 33: 220) Und Bertolt Brecht konzipierte Anfang der dreißiger Jahre die Gründung einer „Organisation der Dialektiker“ (Brecht, BW 21: 526), die sich mit materialistischer Dialektik beschäftigen und „eingreifendes Denken“ (Brecht, BW 21: 527) organisieren sollte. Es gehe um die „Dialektisierung aller Kategorien des Denkens“, weil man auf diese Weise von jedem Gebiet aus zur Revolution kommt, sofern „die politische Komponente gezogen wird“. (Brecht, BW 21: 572)
Aber auch in den letzten Jahren hat sich im deutschsprachigen Raum – ausgehend von Salzburg – eine Gruppe zusammengefunden, die sich die Weiterentwicklung der Dialektik auf Basis der marxistisch-leninistischen Klassiker zur Aufgabe gemacht hat: die Gesellschaft für dialektische Philosophie (GfdP), die sich im Anschluss an Brecht in ihrem statutarisch festgehaltenen Selbstverständnis auch auf die Formulierung „Organisation der Dialektiker“ bezieht.
Die Gesellschaft für dialektische Philosophie
Die „Gesellschaft für dialektische Philosophie” wurde im Jahr 2012 von einigen StudentInnen und philosophisch Interessierten um Stefan Klingersberger in Salzburg gegründet. Damals hieß sie „Salzburger Gesellschaft für dialektische Philosophie”.
Man kann kaum behaupten, dass diese Initiative in der Luft lag – zumindest nicht wenn man einfach die Trends institutionalisierter Philosophie als Maßstab heranzieht. Weder in Österreich, noch weniger in Salzburg spielte (und spielt bis heute) die dialektische Philosophie an Universitäten eine Rolle. Gerade an der Salzburger Universität ist die Philosophie sehr einseitig der dezidiert antidialektischen analytischen Philosophie der angelsächsischen Tradition verpflichtet. An anderen philosophischen Instituten in Österreich mag es zwar etwas mehr Aufgeschlossenheit geben, ein Schattendasein führt – vor allem materialistische – Dialektik aber dennoch. Diese Tatsache ist Ausdruck der Einbettung der Universitäten in den ideologischen Klassenkampf2.
Der Verein „Gesellschaft für dialektische Philosophie” ist immer noch ein österreichischer Verein mit Sitz in Salzburg. Allerdings haben sich die Schwerpunkte verschoben, nachdem in den ersten Jahren ein stetiges und durchaus rasches Wachstum zu verzeichnen war. Das Wort „Salzburger” wurde aus dem Namen gestrichen und das Statut neu konzipiert, um im gesamten deutschsprachigen Raum aktiv werden zu können. Das organisatorische Zentrum des Vereins ist mittlerweile in Berlin. Und in der Mitgliederversammlung vom Februar 2017 übernahm der Holz-Schüler Andreas Hüllinghorst den Vorsitz von Stefan Klingersberger.
Die Zeitschrift „Aufhebung” ist die zentrale Publikation der Gesellschaft, sie erscheint zweimal im Jahr. Im aktuellen Jahr 2018 sind es das insgesamt elfte und zwölfte Heft. Im Jahr 2011 wurde die Zeitschrift „Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie” eingestellt. Sie war von Hans Heinz Holz und Domenico Losurdo herausgegeben worden. Wir konnten viele ihrer Abonnenten für uns gewinnen: das Erbe dieser Zeitschrift anzutreten, die explizit „Topologie der Welt” als „System der Begriffe” (Topos 1993) erstellen wollte, bleibt angesichts ihres hohen Niveaus aber eine beständige Herausforderung.
Außer der Zeitschrift „Aufhebung” veranstaltet der Verein üblicherweise eine Jahrestagung. Sie fanden bis jetzt in Salzburg, Wien und Berlin statt. Zudem gibt es Tagungsbände, verschiedene kleinere Veranstaltungen sowie Lesekreise.
Die Ausrichtung
Die Gesellschaft als „Organisation der Dialektiker” vertritt die materialistische Dialektik, wie sie von Karl Marx konzipiert wurde: „Die Gesellschaft für dialektische Philosophie hat die Aneignung, Weiterentwicklung und Vermittlung materialistischer Dialektik zum Ziel.” (GfdP 2015)
Eine Besonderheit der GfdP ist ihr starker Bezug auf den deutschen Philosophen Hans Heinz Holz (1927−2011), welcher gegenwärtig für die philosophische Auseinandersetzung innerhalb der kommunistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum eine bedeutende Rolle spielt und dessen System noch weiter diskutiert und ausgewertet werden muss: „Die Gesellschaft hat die Aneignung und kritische Reflexion der Philosophie von Hans Heinz Holz zum Ziel.” (GfdP 2015)
Die Dialektik dient Holz als übergreifender Zusammenhang, damit verknüpft er Erkenntnis, Natur und Geschichte, Politik und Revolution, aber auch Ästhetik und Ethik zu einem umfassenden begrifflichen „Gesamtzusammenhang” (Engels). Auch philosophiehistorisch verbindet sich so das Denken der alten Griechen mit Leibniz, Hegel und Marx bis zu Philosophen der Gegenwart oder der chinesischen Philosophie.
Ein erst kürzlich erschienenes Buch mit Interviews, die Arnold Schölzel und Johannes Oehme mit ihm geführt haben, bietet einen guten Überblick über die Figur Holz und sein Leben und Wirken: „Die Sinnlichkeit der Vernunft – Letzte Gespräche“, Verlag Das Neue Berlin. Es wurde mit Unterstützung der GfdP herausgegeben und kann über sie auch bezogen werden (über bestellung@dialektische-philosophie.org oder über den Buchhandel). Hans Heinz Holz erläutert hier die gesellschaftspolitischen Umstände seines Philosophierens.
Auch die Vorlesungen an der Universität Girona aus dem Jahr 2001, die 2015 unter dem Titel „Freiheit und Vernunft“ publiziert wurden, bieten einen vergleichsweise knappen Einstieg. Weniger persönlich, mehr philosophisch als im Interview findet man in dieser intellektuellen Autobiographie die wesentlichen Problemgebiete und Positionen, die Holz Zeit seines Lebens beschäftigt haben.
Etwas umfangreicher und systematischer geht es in der dreibändigen „Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie“ zur Sache, die speziell für kommunistische Holz-Interessierte zu empfehlen ist.
Wer sich einen Vorgeschmack auf eine mögliche weitere Auseinandersetzung mit dem Denken von Hans Heinz Holz verschaffen möchte, kann dies – passend zum 200. Jubiläum des Begründers der wissenschaftlichen Weltanschauung – zum Beispiel mit seinem kurzen Aufsatz über Karl Marx mit dem Titel „Revolutionäre Dimension – Wissenschaft und Weltgeschichte“ tun. Er wurde 2008 in der jungen Welt veröffentlicht und ist auf der DKP-Infoseite news.dkp.de allgemein zugänglich. Durch eine einfache Google-Suche lassen sich auch viele weitere kleine Aufsätze von Holz entdecken.
Parteiperspektive
Im Herbst 2017 haben sich drei PdA-Genossen aus dem Vereinsvorstand der Gesellschaft für dialektische Philosophie zurückgezogen. Das Gute daran ist, dass sie dadurch wieder mehr Kraft für die Parteiarbeit zur Verfügung haben. Das war auch der wesentliche Beweggrund für diesen Schritt, und ohnehin ist die GfdP inzwischen auch ohne sie gut „überlebensfähig“ (was in den ersten paar Jahren noch nicht der Fall war). Aus Perspektive der Partei birgt der Rückzug auch einen Nachteil: Denn logischerweise ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die „Gesellschaft“ früher oder später in eine aus Sicht der Partei falsche Richtung entwickelt, desto höher, je weniger direkten Einfluss Parteimitglieder auf diese Organisation ausüben. Die drei kamen aber zum Schluss, dass der genannte Vorteil diesen Nachteil deutlich überwiegt. Denn die unmittelbare Parteiarbeit muss vorgehen. Gerade auch in der jetzigen Phase, in der es derartig viele und mitunter gravierende organisatorische und politische Schwächen der Partei zu bekämpfen und zu überwinden gilt.
Notwendig wird dadurch für die Partei jedenfalls, die GfdP nun verstärkt nicht nur solidarisch, sondern auch kritisch zu beobachten und zu begleiten. Insbesondere, da es seit kurzem auch in Österreich wieder eine Grundorganisation gibt, und zwar in Wien.
Nichtsdestotrotz möchten wir jenen GenossInnen, die sich näher für marxistische Philosophie interessieren, ein Abonnement der „Aufhebung“ unbedingt ans Herz legen. Unter allen philosophischen Periodika im deutschsprachigen Raum ist sie die einzige, die gegenwärtig zumindest ein relatives ideologisches Naheverhältnis zur Partei der Arbeit aufweist.
Bewertungsmaßstäbe
Einige der oben bereits angesprochenen Überlegungen von Brecht liefern gültige Maßstäbe zur kritischen Beurteilung des politischen Werts einer „Organisation der Dialektiker“. Sie können in den Notizen „Betreffend: Eine Organisation der Dialektiker“, „Grundlinie für eine Gesellschaft der Dialektiker“, „Ziele der Gesellschaft der Dialektiker“, „Satzungen (der G.M.F.H.D)“ sowie in einem Brief an Otto Neurath aus dem Jahr 1933 nachgelesen werden (diese Texte finden sich allesamt in Band 21 bzw. 28 der insgesamt 30-bändigen Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe).
Das allgemeinste und grundlegendste Kriterium ist, inwiefern „eingreifendes Denken“ gelehrt wird, „welches zur Weltrevolution führt“. (Brecht, BW 21: 528) Aufgabe von Dialektikern sei es daher, „die verschiedenen Denkgebiete zu dialektisieren und die politische Komponente zu ziehen“, weil das „von jedem Gebiet aus […] zur Revolution“ führe. (Brecht, BW 21: 572) wie auch die GfdP in ihrem Statut festgehalten hat, dass die erforderliche Philosophie „kollektiv“ erarbeitet und bewusst organisiert werden müsse, fordert Brecht: „Das methodische Denken von mehr als einem.“ (Brecht, BW 21: 537) Zu welchen hervorragenden Leistungen kollektiv angegangene Philosophie und Wissenschaft imstande ist, beweisen zahlreiche Bücher aus den bisherigen sozialistischen Ländern, welche von Autorenkollektiven erarbeitet wurden.
In organisationspolitischer Hinsicht besteht das wesentliche Kriterium in der Frage, inwiefern folgende, wenn auch längerfristig angelegte, strategische Perspektive verfolgt wird: „Die Organisation der Dialektiker erfolgt außerhalb der kommunistischen Arbeiterpartei und findet ihren Abschluss mit der organisatorischen Vereinigung mit dieser.“ (Brecht, BW 21: 526)
Anmerkungen
1) Gemeint ist der kategorische Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Marx, MEW 1: 385)
2) Näheres darüber findet sich in der Broschüre „Gemeinsam kämpfen“ des KSV Salzburg (2017): http://www.rotes-salzburg.at/?p=861
Literaturverzeichnis
Brecht, Bertolt (1992). Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Band 21: Schriften 1914 – 1933. Berlin/Frankfurt
GfdP (2015). Statut. Auf: http://www.dialektische-philosophie.org/?page_id=970. Aufgerufen: 20.5.2018
Holz, Hans Heinz (2018). Die Sinnlichkeit der Vernunft – Letzte Gespräche. Berlin
Klingersberger, Stefan (2018). Mal wieder Marx lesen!, In: Unipress der ÖH Salzburg, Heft 692.
Lenin, Wladimir (1922). Über den streitbaren Materialismus. In: LW Bd. 33. Berlin
Marx, Karl (1844). Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – Einleitung. In: MEW Bd. 1. Berlin
Marx, Karl (1845). Thesen über Feuerbach. In: MEW Bd. 3. Berlin
Programmkommission der PdA (2014). Für eine lebendige Theorie-Praxis-Einheit! In: Einheit und Widerspruch, Heft 1.
Topos-Redaktion (1993). Editorial. In: Topos – Internationale Beiträge zur dialektischen Theorie, Heft 1.